Text zum Werk
In der Darstellung des Flüchtlings, in der sich der Künstler ähnlicher formaler Mittel wie in der Gestaltung des Rächers bediente, gelang es ihm, einen überzeugenden bildlichen Ausdruck für die seelische Not eines zur Flucht gezwungenen Menschen zu finden:
Der Körper des Fliehenden gerät nicht ins Schweben, sondern bleibt der Erde fest verbunden. Die linearen Grate der stufig gefalteten Gewandbahnen betonen die Beugung des linken Knies und machen auf diese Weise die Anstrengung sichtbar, die es kostet, den Körper in Bewegung zu bringen. Das über der Basis abgegrenzte, keilförmige Volumen des Körpers wird zum Kopf hin kompakter und schwerer. Einen markanten Akzent setzen die gekreuzten Hände, die ein Bündel mit Habseligkeiten an die Brust pressen. Parallel gekurvte Faltengrate und -furchen kreisen dieses Motiv optisch ein und binden es durch die gerade Linie der dominanten Faltenkante an den rechten Fuß, der sich nicht vom Boden lösen will.
Der Körper des Flüchtlings tendiert zum Verharren, doch der weit nach vorn geschobene Kopf drück das Wissen des Gehetzten um die Unvermeidlichkeit der Flucht aus. Der Gesichtsausdruck macht aber auch die Angst des Mannes vor dem im Ungewissen liegenden Ziel sichtbar.
Auch während der schweren Zeit des Kriegs hielt Barlach an seiner Überzeugung fest, dass die schicksalsbedingte Erfahrung einer fundamentalen Verunsicherung der Existenz für den Menschen eine Chance bedeuten könne, sein Verhaftetsein in der nur scheinbaren Geborgenheit des bürgerlichen Lebens zu überwinden und offen zu werden für das Erleben einer geistigen »Vertiefung, Verfeinerung, Veredelung« (Briefe I, S. 485).
Diese grundsätzlich positive Deutung existenzieller Krisen war für Barlach allerdings keineswegs eine selbstverständliche Gewissheit seines Weltbildes; vielmehr musste er sie sich immer wieder hart erkämpfen. Zeit seines Lebens kannte Barlach auch das Gefühl der Empörung und Bitterkeit über das von Elend und Leid geprägte Dasein der Menschen. Gerade in den Jahren nach 1918 war dieses Gefühl für ihn häufig bestimmend: In der Bereitschaft, die materielle und die seelische Not der Menschen nicht nur beiläufig zu registrieren, sondern in aller Härte wahrzunehmen und in der künstlerischen Verarbeitung die menschliche Kraft zur Überwindung des Leids zu finden, sah Barlach immer wieder den für ihn einzig möglichen Weg, sich von seinen Zweifeln zu befreien und Vertrauen in den Glauben zu gewinnen, dass das »Schicksal trotz allem...auf Güte und Sinn gegründet« sei. (Briefe II, S. 127).
Werkdaten
Titel | Der Flüchtling |
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Datierung | 1920 (Guss von 1937) |
Reihe, Serie | – |
Material, Technik | Bronze mit dunkelbraun-grünlicher Patina |
MAßE | 35,4 x 38,4 x 14,1 cm |
Signatur | Auf der Plinthe vorne: E Barlach |
Bezeichnung | Auf der Plinthe links Gießerstempel: H.NOACK / BERLIN FRIEDENAU |
Sammlungsbereich | Skulptur und Plastik |
Inventar-Nr. | P 1994/001 |
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Werkverzeichnis | Laur II 0294, 1) |
Bemerkung | – |
Auflage | Zwei unnummerierte Exemplare 1937, 18 unnummerierte Exemplare seit 1939 |
Erwerbung | Von der Galerie Bertram, Bremen, am 11.1.1994 |
Provenienz |
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Creditline | © Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma, Hamburg; Foto: Andreas Weiss |