Heute 11–18 Uhr geöffnet

Georg Winter

Heftiger Niederschlag, knapp daneben
9. Oktober 2011 – 8. Januar 2012

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Im Ausnahme­zustand

Seit den 1980er Jahren zählt Georg Winter (*1962) zu den führenden Aktivisten im Bereich raumbezogener Experimentalkunst. Nun wird das Ernst Barlach Haus zur Bühne für den eigenwilligen Bildhauer, Medien- und Performancekünstler, der mit Witz und Biss die Grenzbereiche zwischen Kunst und Leben erforscht. Winters Spezialgebiet sind inszenierte Ausnahmezustände, und auch sein Szenario für das Ernst Barlach Haus birgt Sprengkraft: Ein Satellit ist in den Innenhof des Museums gestürzt…

Ein wesentlicher Aspekt der künstlerischen Strategie Georg Winters ist die enge Verschränkung von Kunst und Leben, vorzugsweise in inszenierten Ausnahmesituationen. Winter unterwandert alle Erwartungen an klare Grenzziehungen: Seine Kunst verlässt den abgesicherten Rahmen der Institution Museum oder fordert im Gegenzug das Museum durch den unerwarteten Einbruch der Außenwelt heraus.

 

Eine solche Kollision ereignet sich Anfang Oktober 2011 auch im Ernst Barlach Haus. Angeregt durch dessen Architektur hat Winter ein brisantes Szenario entwickelt: Ein unbemanntes Flugobjekt (ein Satellit?) stürzt aus dem Weltraum auf die Erde und schlägt durch das Glasdach in den Innenhof des Museums ein – Barlachs Plastiken bekommen Besuch aus dem All. Mit dieser scheinbar unkontrollierten Bruchlandung trifft Winter ins Zentrum musealer Schutz- und Wertvorstellungen; die inszenierte Katastrophe schärft den Blick für ganz reale Gefährdungen, denn Winters Szenario entspringt – wie aktuelle Zeitungsmeldungen belegen – keiner abseitigen Idee. So hat erst Ende September 2011 ein bevorstehender Satellitenrücksturz die Einwohner Moskaus in Unruhe versetzt, ehe das Objekt schließlich im Pazifik versank. Angesichts des verbleibenden Weltraumschrotts ist es allerdings nur eine Frage der Zeit, wann das nächste Rückfallobjekt aus seiner orbitalen Bahn ausbricht und uns zwingt, vor unserer eigenen Technolo­gie in Deckung zu gehen.

Von dem fremdartigen Gebilde, das Georg Winter in den Jenischpark katapultiert hat, geht indes keine Gefahr mehr aus – das hat eine Übung der Freiwilligen Feuerwehr Nienstedten im Anschluss an die Ausstellungseröffnung ergeben. Mit dem Auftrag »Spüren, Messen, Bergen« haben sich die Spezialisten Winters Rückfallobjekt genähert, es auf unterschiedliche Gefahren hin untersucht und gesichert. Dieser Auftritt professioneller Feuerwehrleute war gleichermaßen künstlerisch initiierte Aktion und reale, nicht inszenierte Ernstfallübung.

Der arrangierte Satelliteneinschlag trifft nicht nur ins Herz des Museums, er ist auch eine künstle­rische Geste, mit der Georg Winter an die Radikalität Ernst Barlachs anknüpft: Winter versteht seinen Eingriff als Fortführung eines humanistischen Engagements, das Barlach mit den Mitteln traditioneller Bildhauerei verwirklicht hat. Trotz aller Unterschiede in der künstlerischen Sprache sieht Winter einen gemeinsamen Anspruch: Kunst als eine kompromisslos auf existenzielle Fragen des Menschseins zielende Kraft.

Mit seinem expressiven Arrangement erweist Winter dem großen Expressionisten auch ausdrücklich seine Reverenz, denn für zwei Plastiken Barlachs – Der Geistkämpfer und Lehrender Christus – hat er Rettungsmantel-Prototypen nähen lassen. Inspiriert durch die Gewänder, Umhänge und Kappen, mit denen Barlach die Körper seiner Figuren verhüllt, sind maßgeschneiderte, weich wattierte Schutzdecken entstanden. Winters individuelle Rettungsmäntel sind Ausdruck einer fürsorglichen Geste des Bergens und zugleich weithin leuchtende Zeichen für nachhaltigen Kulturschutz.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalogheft.

»Ich beschäftige mich mit der Konzeption und Herstellung von Störungen in Betriebssystemen, wie auch mit der Reflexion und Behebung von Störungen in Betriebssystemen. Exkursionen, -peditionen, -hibitionen, -perimente kommen zur Durchführung mit den Beteiligten und anderen. Verwerfungen und aktive Formen der Unterlassung folgen. Ambulante Lehrtätigkeiten, Professuren und Revolten wechseln mit Übungen zur Objektdifferenzierung, betreutem Schlaf und der Verabreichung von Sedativa an ›artitoxischen‹ Stellen. Einfache Grundübungen wie Drehen, Wenden, Aufheben werden täglich geleistet. Der menschliche Körper kann, nach Spinoza, die anderen Körper auf viele Arten bewegen und auf viele Arten disponieren.«

Georg Winter